
Wie Agrar‑ und Lebensmittelunternehmen EU-Regulierungen nutzen können
Globale Krisen, volatile Märkte und neue Lieferkettenregulierungen setzen die Agrar- und Lebensmittelbranche unter Druck – zugleich eröffnen sie Chancen: Wer Transparenz in der Lieferkette schafft und Nachhaltigkeit als festen Bestandteil des Risikomanagements verankert, gewinnt nicht nur an Compliance, sondern auch an Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit.
Beitrag von Pierre-Francois Thaler, Co-Founder & Co-CEO, EcoVadis, Erstveröffentlichung in Tagesspiegel Background am 02.10.2025
Die Agrar- und Lebensmittelbranche bewegt sich in einem Spannungsfeld, das kaum komplexer sein könnte. Klimakrise, geopolitische Konflikte, volatile Handelsbedingungen und soziale Instabilität bilden ein Geflecht von Hyperrisiken, das das traditionelle Risikomanagement an seine Grenzen bringt.
Inmitten dieser Turbulenzen können ESG-Regulierungen, wie beispielsweise die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD), Wirkung entfalten – nicht als isolierte Vorschriften, sondern als Mechanismen, die Lieferketten widerstandsfähiger machen sollen. Eine notwendige Voraussetzung für zukünftige Stabilität und Wirtschaftlichkeit.
Einkauf und Lieferanten zwischen Druck und Unsicherheit
Gleichzeitig stehen Unternehmen unter wachsenden Anforderungen. Sie müssen ihre Lieferketten mitunter bis ins Detail transparent machen, um menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken vorzubeugen und sie zu mindern. Doch in Regionen mit unsicheren Landrechten, fehlender Infrastruktur oder schwachen Institutionen stößt diese Transparenz schnell an Grenzen.
Wenn Dürren, Überschwemmungen, Niedrigwasser oder Konflikte die Produktion unterbrechen, zeigt sich, dass Risikomanagement und Compliance weit mehr sind als eine technische Übung. Sie sind essenzielle Bestandteile unternehmerischer Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit. Denn globale Lieferketten sind abhängig von stabilen Rahmenbedingungen – und müssen gleichzeitig immer agiler sein. Unternehmen, die Nachhaltigkeitsrisiken lediglich als regulatorische Pflicht verstehen, handeln aber reaktiv und laufen Gefahr, operative und reputative Schäden zu erleiden.
Wer dagegen auf ein vorausschauendes Risikomanagement setzt, schafft Transparenz, baut robuste Partnerschaften auf und kann im Krisenfall schneller und gezielter reagieren. Nachhaltige Compliance wird so zum strategischen Vorteil.
Innerhalb von Unternehmen zeigen sich jedoch immer wieder Silos: Während Beschaffungsteams den Zugang zu Rohstoffen sichern wollen, müssen Nachhaltigkeits- und Compliance-Abteilungen garantieren, dass die Einkäufe und Lieferungen den regulatorischen Vorgaben entsprechen.
Doch Fakt ist: Die notwendige Synchronisierung der Prozesse gelingt noch selten reibungslos. Dies führt in Krisensituationen, etwa bei Ernteausfällen oder Lieferstopps, zu zusätzlichen Risiken. Sicherer fährt also, wer sich ausführlich mit seinen Lieferketten beschäftigt hat.
Chancen durch klare Daten und Governance
Ob Menschenrechte, Biodiversität, Entwaldung oder Berichterstattung: Die Änderungen und Verschiebungen seitens der EU in Bezug auf Nachhaltigkeitsregulierungen und Lieferkettengesetze sorgen vielerorts für Verunsicherung. Während zu CBAM der EU-Rat in diesen Tagen die Änderungen verabschiedet hat, kam es im Europäischen Parlament diese Woche zu keiner Einigung in Bezug auf die Omnibus-Änderungen zur CSRD und CSDDD.
Unternehmen sollten sich davon jedoch nicht verunsichern lassen, sondern ihren Weg Richtung Transparenz weiterverfolgen. Denn auch wenn beispielsweise Unternehmen nach aktuellen Plänen nicht mehr in den Geltungsbereich, beispielsweise der CSRD, fallen würden, bleibt der Ruf der Märkte und Investoren nach Risikotransparenz bestehen.
Ebenso können Gesetzesaufschiebungen als Chance betrachtet werden, nicht um Investitionen und Ressourcen zurückzuziehen, sondern um die Zeit für die Wertgenerierung und Steigerung der eigenen Nachhaltigkeitsleistung zu nutzen.
Dort, wo Unternehmen es schaffen, alle relevanten Informationen, von Lieferantendaten über ESG-Risiken bis hin zu regulatorischen Anforderungen, systematisch zu konsolidieren und in eine integrierte Betriebs-Governance zu überführen, entstehen klare Vorteile. Diese Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in Silos denken, sondern funktionsübergreifend arbeiten: Einkauf, Nachhaltigkeit, Supply Chain Management und Compliance greifen koordiniert auf zentrale Datenplattformen zu, um Risiken zu bewerten, und entsprechende Compliance-Maßnahmen umzusetzen.
Sie nutzen digitale Tools zur Automatisierung von Risikoanalysen, integrieren ESG-Kriterien in Beschaffungsprozesse und verankern menschenrechtliche sowie ökologische Sorgfaltspflichten verbindlich in Verträgen und internen Richtlinien. Das sorgt nicht nur für Transparenz entlang der Lieferkette, sondern auch für Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit.
Dabei wirken transparente Lieferketten wie ein Frühwarnsystem: Risiken wie Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen, extreme Wetterereignisse oder illegale Entwaldung werden sichtbar, bevor sie Lieferketten blockieren. Compliance ist damit nicht nur juristische Pflicht, sondern auch ein strategisches Instrument zur Resilienzsteigerung – gerade in einer Welt multipler Krisen.
Risiken des Zögerns
Wer hingegen nur auf kurzfristige Konformität setzt, also lediglich auf das, was zur Erfüllung aktueller Berichtspflichten oder Auditanforderungen unbedingt notwendig ist, ohne strukturell in Prozesse, Partnerschaften oder Technologie zu investieren, riskiert doppelte Verwundbarkeit.
Zum einen droht der Verlust von Marktzugängen, etwa wenn große Abnehmer strengere ESG-Kriterien einführen oder neue gesetzliche Schwellenwerte greifen. Zum anderen können externe Schocks, wie klimabedingte Ernteausfälle, politische Instabilität oder plötzliche Reputationskrisen, ungehindert durchschlagen, weil es an Prävention, Monitoring oder Verbesserungsmaßnahmen fehlt.
Besonders kritisch ist die Situation bei Kleinproduzenten am Anfang vieler Lieferketten: Ohne gezielte Unterstützung, etwa durch Schulungen zu Sozial- und Umweltstandards, den Zugang zu digitalen Tools oder faire, längerfristige Verträge, können sie den Anforderungen oft nicht gerecht werden. In Regionen, die ohnehin von Klimarisiken und politischer Unsicherheit geprägt sind, kann dies fatale Folgen haben.
Wenn lokale Produzenten aus dem Welthandel gedrängt werden, verliert nicht nur die Bevölkerung ihre wirtschaftliche Grundlage. Die Folgen wären auch eine verstärkte Anfälligkeit globaler Märkte: Knappheiten, Preissteigerungen, weitere Instabilität.
Wege aus der Zwickmühle
Die Praxis zeigt drei Hebel, um regulatorischen Druck in Resilienz zu verwandeln: Erstens müssen Unternehmen ihre Risikoanalyse stärker mit geopolitischen, menschenrechtlichen und klimatischen Szenarien verzahnen – auch durch das Feedback von Arbeiter:innen vor Ort. Zweitens braucht es Kooperationen mit Produzenten und lokalen Institutionen, um Datendefizite zu überwinden. Drittens ist die Integration von Nachhaltigkeit in das Kerngeschäft entscheidend – nicht als isoliertes Thema, sondern als fester Bestandteil des Risikomanagements.
Regulierungen wie CSRD, Sorgfaltspflichtengesetze und EUDR sind zwar umstritten, weil sie den Druck auf Unternehmen verschärfen. Aber sie eröffnen auch die Chance, Lieferketten widerstandsfähiger gegen Hyperrisiken und die globale Volatilität zu machen. Wer diese Regeln als strategischen Rahmen begreift, kann nicht nur Konformität sichern, sondern auch Stabilität in Krisenzeiten schaffen.
Für die Agrar- und Lebensmittelbranche bedeutet das: Risikomanagement ist keine Last, sondern eine Überlebensstrategie.
